Über mich

Ich wurde 1952 in Rheinland-Pfalz geboren, wo ich auch einen Teil meiner Kindheit verbrachte. Vom zehnten Lebensjahr an lebte ich in Saarbrücken. Dort studierte ich Germanistik und Evangelische Theologie. Während des Studiums wurde ich auf die Literaturzeitschrift VERSUCHE aufmerksam, die ich später zusammen mit Dirk Bubel und Bernd Philippi herausgab. Gemeinsam waren wir auch für den Bernd Schreiber Verlag verantwortlich und für lyrische Aktionen. Noch vor der Zwischenprüfung unterbrach ich das Studium. Ein Stipendium des Saarländischen Kultusministeriums für saarländische Autoren führte mich für drei Monate nach Worpswede. In dem Künstlerdorf gefiel es mir so gut, dass ich mich unmittelbar nach dem Stipendium dort niederließ. An der Universität Bremen setzte ich mein Studium fort und studierte bis 1984 Deutsch und Religionspädagogik für das Lehramt. Eigentlich hätte es in Bremen nach dem Examen mit einem Referendariat weitergehen sollen. Da ich mich weder in Niedersachsen noch in einem anderen Bundesland für eine Referendariatsstelle bewerben wollte, wurde ich in Bremen auf die Warteliste gesetzt. 1985 stieß ich zu KLICK, die damals die erste deutsche Wochenzeitung für Kinder war. Nach zwei Jahren verließ ich die Redaktion und hielt mich mit Beiträgen (Reportagen, Feature etc.) für den Rundfunk über Wasser. Schließlich verabschiedete ich mich von dem Gedanken, Lehrer zu werden. 1989 erschien mein erstes Jugendbuch. Beim Bücherschreiben ist es bis heute geblieben.

1985 war KLICK die erste deutsche Wochenzeitung, die Kindern und Jugendlichen in einfacher und verständlicher Sprache über Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport informierte. Die Berichte waren kurz, anschaulich und unterhaltsam. Das Besondere an KLICK: Kinder und Jugendliche waren aktiv an der Gestaltung der Wochenzeitung beteiligt. Sie schrieben Reportagen und Geschichten und zeichneten auch Cartoons. 1986 wurde KLICK vom Senator für Jugend und Soziales mit dem Bremer Förderpreis für Jugendarbeit ausgezeichnet. Die Idee zu dieser Wochenzeitung hatte Erwin Bienewald. Er verfasste damals für den Senat auch den Projektbericht, mit dem wir uns für den Preis bewarben. Einige Auszüge aus diesem Bericht möchte ich hier wiedergeben. Sie dokumentieren, wie aus einer Idee Wirklichkeit wurde und letztlich neben viel Spaß auch harte Arbeit.

Im Juli 1985 trafen sich in Worpswede 15 Lehrer und Journalisten. Sie planten die erste deutsche Wochenzeitung für Kinder. Vorbild für dieses Projekt war die französische Kinderzeitung „Le journal des enfants“. Im September 1985 erschien schließlich von KLICK eine erste Probenummer. Gewerkschaftlich organisierte Lehrerinnen und Lehrer verteilten die Materialien im Unterricht, fast 1.000 Fragebogen kamen zurück. Die Auswertung ergab Folgendes: Kerngruppe künftiger Leserinnen und Leser würden Kinder und Jugendliche im Alter von 12 bis 14 Jahren sein. Im Gegensatz zu Erwachsenen, die ihre Tageszeitung in der Regel für mehrere Jahre abonnieren, wäre die Fluktuation bei einer aktuellen Wochenzeitung relativ groß. Ältere Leser würden abspringen, neue, jüngere müsste hinzugewonnen werden. Die Hoffnung, Lehrer und Pädagogen würden den Plan einer aktuellen Kinderzeitung unterstützen und sie im Unterricht verwenden, erwies sich schnell als Trugschluss. Die Schulbehörden blockten ab, einzelnen Lehrern war die Tendenz der Zeitung zu „linkslastig“, andere meinten, Wirtschaft und Politik seien noch nichts für Kinder, und wiederum andere waren der Ansicht, die Beiträge seien zu leicht oder aber auch zu schwer. Unter den Initiatoren der Kinderzeitung gab es die ersten Unstimmigkeiten. Zahlreiche Probeartikel misslangen. Komplexe Themen und Zusammenhänge kurz und verständlich darzulegen, stellte hohe Anforderungen selbst an professionelle Journalisten. Die Journalisten in der Gruppe, fast ausnahmslos freie Mitarbeiter beim Rundfunk, fühlten sich bald überfordert. Die Kinderzeitung machte mehr Arbeit und Ärger, als gedacht. Die meisten stellten ihre Mitarbeit ein.
Erwin Bienewald fuhr daraufhin nach Mulhouse in Frankreich und besuchte die Redaktion der französischen Kinderzeitung „Le journal des enfants“. Diese Zeitung war das Vorbild von KLICK. Sie erschien wöchentlich, hatte eine Auflage von 20.000 Exemplaren und wurde von der elsässischen Tageszeitung „L`Alsace“ herausgegeben. Für die Redaktion, die praktisch aus einem Schreibtisch und einem Telefon bestand (Internet gab es damals noch nicht), war lediglich eine Person verantwortlich. Kinder machten bei der Zeitung nicht mit. Das war auch gar nicht vorgesehen. Erwin Bienewald wollte das anders machen und den Kindern den aktiven Umgang mit Medien ermöglichen. Die Kinder sollten ihre Zeitung als Reporter, Geschichtenschreiber, Kritiker, Karikaturisten und Fotografen mitgestalten und mitentscheiden, was gedruckt wird und was nicht. Die Erwachsenen hatten die Aufgabe, ihnen zu helfen, das „Produkt“ ansehnlich zu machen, so dass es sich verkaufen ließ. Die Idee der Kinderreporter war geboren.

In den achtziger Jahren ergab eine Studie der ARD/ZDF-Medienkommission und der Bertelsmann-Stiftung, dass 60 Prozent aller 10- bis 18-Jährigen Radio und Fernsehen auch als Informationsquelle nutzten. Demnach waren Kinder und Jugendliche an Nachrichten interessiert, nur dass Fernsehen und Radio die Nachrichten nicht so verfassten, dass sie von den jungen Konsumenten verstanden wurden. Allerdings begannen einige wenige Fernsehsender, das Bedürfnis von Kindern und Jugendlichen vom Wissen über die Ereignisse in der Welt nicht ausgeschlossen zu werden, wahrzunehmen und behutsam Neuerungen einzuführen. Das galt auch für Zeitungen und Zeitschriften. Die Bemühungen waren jedoch von wenig Erfolg gekrönt. Eigene Seiten für junge Leser entstanden nicht. Das finanzielle Risiko war einfach zu groß. Und Vielleser, das besagte die Studie, waren die Kinder auch nicht.
Die Analyse der Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen führte zu heftigen Widersprüchen innerhalb der Vorbereitungsgruppe von KLICK. Auf der einen Seite erschien das Bedürfnis nach Informationen vorhanden zu sein und auch eine große Bereitschaft, sich aktiv an der Gestaltung der Medien zu beteiligen. Dementgegen stand aber der Trend, immer weniger zu lesen und vor allem die geringe Bereitschaft, für Nachrichten und Informationen Geld auszugeben. Die Gruppe beschloss, noch vor Weihnachten 1985 eine weitere Nullnummer herauszugeben. Ich erfuhr davon, nahm Kontakt auf und war fortan dabei.

Am 29.11.1985 kam die zweite Nullnummer heraus. Auf der Titelseite erschienen Artikel über den Vulkanausbruch in Kolumbien, über die Abrüstungsgespräche zwischen Reagan und Gorbatschow in Genf und die Diskussion über Tempo 100. Auch zwei Berichte von Kindern waren dabei. Der Erfolg in den Medien war gewaltig und überraschte uns. Die Tagesschau berichtete zuerst und das in den 20-Uhr-Nachrichten. Es folgten Tageszeitungen, Zeitschriften, die Teleillustrierte des ZDF, alle Rundfunkanstalten. Aus allen Teilen des Landes, selbst aus Ungarn, Österreich und Italien kamen Anfragen nach Probenummern. Die Auflage war im Nu weg, es musste nachgedruckt werden. Für uns kam die Publicity eindeutig zu früh. Das Niveau der Zeitung war noch verbesserungsbedürftig und hatte eine solche Aufmerksamkeit zu jenem Zeitpunkt nicht verdient.

Ab Januar 1986 erschien KLICK regelmäßig einmal die Woche. Dazu war von Erwin Bienwald der Verlag „Die Tollkirsche“ mit Sitz in Worpswede gegründet worden. Zusätzlich gab es den „Verein zur Förderung medienpädagogischer Aktivitäten für Kinder und Jugendliche e.V.“ Verlag und Verein arbeiteten getrennt. Die Kinderarbeit des Vereins war gemeinnützig, der Verlag eine kommerzielle Firma. Die Wochenzeitung war quasi das Aushängeschild, der Werbeträger des Projekts. Der eigentliche Erfolg aber waren die Kinder. Auch ein Jahr nach Erscheinen der Zeitung machten sie begeistert mit und es kamen immer neue hinzu. KLICK wurde von Ausgabe zu Ausgabe mehr das Produkt von Kindern. Nicht nur Kinder aus Bremen schrieben Berichte, die Geschichten und Reportagen kamen aus der ganzen Bundesrepublik. In den anderen Städten arbeiteten die jungen Autoren allein, in den Redaktionsräumen von Bremen organisierten Erwachsene die Aktivitäten.
Dem Verein, für den vom Arbeitsamt vier ABM-Maßnahmen bewilligt worden waren, gelang es Pädagogik, Journalismus und soziale Aktionen miteinander zu verknüpfen. Kinder und Erwachsene engagierten sich gemeinsam für Frieden, Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit. Die Vereinsmitglieder begriffen Erziehung als Aufforderung zum Widerstand gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Die Kinder – als schwächstes Glied in der „Ellenbogen-Gesellschaft“ – sollten lernen, die Macht der Erwachsenen zu durchschauen und das gelang ihnen auch in vielen Fällen.

Zwei Jahre, nachdem ich der Redaktion beigetreten war, beendete ich meine Mitarbeit. Letztlich scheiterte die Kinder- und Jugendzeitung KLICK an den hohen Kosten. Das Konzept wurde geändert, KLICK blieb aber noch einige Jahre eine Publikation für Kinder und Jugendliche.

VERSUCHEn wir's mal. Rückblick auf eine (alternative) Literatur-
zeitschrift

Die Gründung der Zeitschrift VERSUCHE war, wie man heute sagen würde, eine „feindliche (freundliche) Übernahme. Sie existierte bereits mit dem Untertitel „Texte Saarländischer Autoren“, was ihre strenge regionale Ausrichtung kundtat. Nach Orientierungsversuchen und Richtungsdiskussionen tauchte in Heft 4 erstmals mit Rita Breit (Berlin) eine Nicht-Saarländerin auf, die von da ab regelmäßig mit Beiträgen vertreten war. Ab Ausgabe 6 bzw. 7/1977 druckte VERSUCHE Autoren von außerhalb (für die erwähnten Ausgaben etwa den damals in der JVA Werl einsitzenden P.P. Zahl oder Hans Georg Bulla) ab. Dieser Austausch war für die Herausgeber fortan wichtig: Die Vorstellung junger Autoren und Künstler von außerhalb sollte die saarländische Literatur- und Kunstszene „befruchten“, die saarländischen Autor(inn)en sollten aufgrund des bundesweiten Vertriebs außerhalb des Ländchens bekannt gemacht werden.

Mit Heft 9/1977 wird VERSUCHE im Bernd Schreiber Verlag herausgegeben, der sein Verlagsprofil wie folgt formulierte: Der Bernd Schreiber Verlag wurde im Februar 1977 gegründet. Er versteht sich als Alternativverlag in dem Sinne, dass er sich a) um intensive Zusammenarbeit mit dem jeweiligen Autor bemüht, b) für die Veröffentlichung von Manuskripten einsetzt, die entweder aufgrund der literarischen Präsentation oder aufgrund der dargestellten Inhalte innovativ sind, c) in seinen Kriterien nicht primär an einem vorhandenen Markt orientiert.

Dem Experimentieren haben die Herausgeber einen großzügigen Spielraum überlassen. Dazu gehörten die Verknüpfung von Textabdruck und Rezension, etwa in Heft 6/1977 die Besprechung der damals noch nicht so bekannten Eflriede Jelinek („Die Liebhaberinnen“), Textabdruck und Rezension des damals noch in der DDR lebenden Hans Joachim Schädlich („Versuchte Nähe“, Rowohlt 1977) in Heft 8/1977 oder auch die Besprechung von Jurek Beckers „Jakob der Lügner“ durch Peter Beicken, Prof. für deutsche Literatur an der University of Maryland, im Themenheft 12/1978 Moderne Märchen.
Zu den Experimenten zählten auch Standortbestimmungen durch theoretische Texte, die entweder allgemein gehalten oder ab Heft 10/1977 Bezug zum jeweiligen Heftthema hatten. Ich nenne nur die Beiträge von Prof. Dr. Gerhard Sauder (Universität des Saarlandes): „Rückschritte der Poesie“. Zur Lyrik der Gegenwart, Prof. Dr. Dietfried Gerhardus: Experiment als Verfahren. Notizen zur Bildkunst (veränderte und erweiterte Fassung des Beitrags zum Ausstellungskatalog Deutsche Handzeichnung – heute), Bernd Philippi/Christine Weiss: Elementarität und Experiment (der Text wurde wieder abgedruckt in: Der Deutschunterricht, Heft 1/1980). Ab Heft 10/1977 erscheinen die VERSUCHE als Hefte mit thematischem Schwerpunkt. In diesem Heft wird auch erstmals der Versuch unternommen, Künstler und Autoren dem Lesepublikum nahezubringen. Abgedruckt wurden grafische Arbeiten des vor kurzem (16.9.2013) verstorbenen Aloys Ohlmann und zugleich die Arbeitsweise des Künstlers durch ein Werkstattgespräch vorgestellt, das die Herausgeber mit ihm führten. Ebenso wurde der Lyriker Werner Reinert und dessen Gedichtband „Steinkreis“ durch einen Beitrag der Herausgeber vorgestellt. Zu den Experimenten ist auch der Versuch zu rechnen, für ein Themenheft („Frauenliteratur“) ein externes Herausgeberteam (Rita Breit, Maria Neef-Uthoff, Klaus Franken, alle Berlin) zu gewinnen.

Sicher ein Höhepunkt unser Herausgeberarbeit und unserer Bemühungen, der Lyrik neue Leser zu gewinnen, war die Aktion „Lyrischer März 1979“. Im editorial der Ausgabe 14/15, 1979, in der alle Texte der Aktion versammelt sind, heißt es: „Die Herausgeber der VERSUCHE führten im März in Zusammenarbeit mit dem Kulturamt der Stadt Saarbrücken die Aktion Lyrischer März 1979 durch. Unter der Fragestellung „Was bringt das neue Jahr an Lyrik?“ wurden deutschsprachige Lyriker um ihren ersten Text des neuen Jahres gebeten. (…) Diese Texte wurden auf Plakate gedruckt und in der Stadt Saarbrücken ausgehängt. Damit sollte das zweite Ziel der Aktion erreicht werden, nämlich „Lyrik unter die Leute zu bringen“.“ Die Aktion erfreute sich eines enormen Autoren- und Medieninteresses, wie die Namen einiger teilnehmender Autoren belegen: Manfred Römbell, Michael Buselmeier, Peter Beicken, Michael Krüger, Hans Stilett, Arnfrid Astel, Oskar Pastior, Sarah Kirsch, F. C. Delius, Werner Reinert. Diese Aktion wurde im Jahr 1980 unter dem Titel Aktion Lyrik erneut in Zusammenarbeit mit dem Kulturamt der Stadt Saarbrücken durchgeführt.

Danach erschienen – leider – nur noch zwei Ausgaben, 16/1979 zum Thema „Text/Bild“ mit Grafiken/Texten von Aloys Ohlmann, Annegret Soltau, Ernst Volland, Kurt Wilhelm Hofmann, Peter Beicken, Georges Hausemer, Rumjana Zacharieva. Das Heft enthielt als Beilage das „SUCH BUCH“ von Klaus Peter Dencker. Heft 17/1981, Experiment Foto enthielt eine Fotosequenz von Annegret Soltau „allein I“, 1979 und einen konkreten Text von Bernd Philippi „HOW TO MAKE A POEM HOW CONCRETE“, außerdem Prosatexte von Klaus Barth, Eva-Maria Berg, Georges Hausemer.

Mit diesem Heft – meines Erachtens auch das beste – tat VERSUCHE seinen letzten Atemzug. Die Gründe sind bekannt: mangelnder Absatz, fehlende Vertriebskanäle etc. Wir haben's VERSUCHt. Spannend und aufregend (anregend) wars trotzdem.

Bernd Philippi


Bernd Philippi lebt in Völklingen, studierte Germanistik und Philosophie an der Universität Erlangen. 1977–1980 Forschungsassistent im DFG-Projekt „Wissenschaftssprache in Kunst- und Literaturwissenschaft“ am Philosophischen Institut der Universität des Saarlandes. Referent für Bildende Kunst am Landesinstitut für Pädagogik und Medien, LPM, Saarbrücken. Literarische und wissenschaftliche Veröffentlichungen, Lexikonartikel, Fachübersetzungen für den Suhrkamp Verlag. Zuletzt:Maler & Modell (mit Aloys Ohlmann), Baltersweiler/Völklingen 2012; mit G. Tänzer [Hg.], Theobald HockSchönes Blumenfeld, Saarbrücken: Conte 2007; mit Sascha Boßlet [Hg.], Flattersatz. Zeitung in der Lyrik, St. Ingbert: Conte 2012; Rabenvögel. Raben in der Lyrik, St. Ingbert: Conte 2013



Wie man vor 35 Jahren eine Literaturzeitschrift machte

Es war in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Neben den großen und etablierten Zeitungen und Zeitschriften gab es eine bunte Palette von sogenannten Alternativ-Zeitschriften, zumeist auf billiges Papier schwarzweiß gedruckt oder hektographiert. Um Platz zu sparen, wurde bei den politischen Blättern meist der gesamte Raum für Texte genutzt; Gestaltung, Lay-out-Ideen und Visualisierungen hätten da nur gestört. Innerhalb dieses Alternativpressen-Spektrums gab es auch eine Reihe kleiner Literaturzeitschriften. Eine davon hieß VERSUCHE, im Untertitel „Saarländische Zeitschrift für Literatur und Graphik“.

Diese Zeitschrift wurde von Bernd Philippi, Bernd Schreiber und mir in Saarbrücken gemacht. Der Untertitel verpflichtete uns zu einem Mindestmaß an ästhetischen Grundregeln. Die Grafiken waren ganzseitig und standen isoliert; die Gedichte hatten Raum zum Atmen. Es gab ein ordentliches Inhaltsverzeichnis und eine kontinuierliche Paginierung. Auf den letzten zwei Seiten waren die Autorenbios abgedruckt.

Die Autoren fanden von selber den Weg zu uns, bzw. über ein verzweigtes, kommunizierendes System anderer kleiner Literaturzeitschriften. Wir wurden zugeschüttet mit Texten, Unmengen von Gedichten. Das meiste war Schrott und dummes Zeug, vergleichbar mit dem, was heutzutage bei den großen Buchhandelsketten ganz vorne auf dem Ladentisch liegt.

Alternativ zu sein, hieß damals vor allem anders als die anderen zu sein. Die anderen, das waren die großen Verlage. Wer dort als junger unbekannter Autor Texte hinschickte, bekam meistens einen vorgedruckten Dankesbrief zurück, dass man sich sehr über die Einsendung gefreut habe, dass die Texte aber bedauerlicherweise nicht ins Verlagsprogramm passen. Eine alternative Literaturzeitschrift musste das also anders machen.

Nächtelang habe ich vor meiner mechanischen Reiseschreibmaschine gehockt, zwei Papierbögen mit dazwischenliegendem blauem Durchschlagpapier eingespannt und seitenweise begründet, warum der Prosatext misslungen ist, wieso das Gedicht ab der fünften Zeile auseinanderbröckelt, warum der Spannungsbogen verlorengeht, um schlussendlich mich und den Autor zu fragen, ob er statt Lyriker nicht lieber Klempner werden wolle. Das war so eine Art Do-it-yourself-crash-Kurs in Germanistik und Literaturwissenschaft.

Der 'Offset-Druck' existierte zwar schon, aber Drucken war trotzdem teuer. Wir sparten, wo wir nur konnten, ersetzten viele Arbeitsschritte durch Eigenleistung. Auch der Begriff 'Computer' existierte schon. Aber der Computer stand bei der NASA und hatte was mit der Mondlandung zu tun. Zur Vorbereitung des Layouts hatten wir uns eine IBM-Kugelkopfmaschine mit Kohlefarbband für drei Tage im Bürogeschäft ausgeliehen. Damit erstellten wir die Rein-Lay-outs für die Texte. Bei den Gedichten war der Flattersatz am rechten Rand üblich. Prosatexte hingegen wollten wir unbedingt im Blocksatz abdrucken, weil das professioneller aussah. Das war mit der Schreibmaschine nur dadurch zu erreichen, dass wir die Wortzwischenräume entsprechend variierten, sodass alle Wörter am rechten Rand im gleichen Anschlag aufhörten. Jede Zeile beanspruchte also jede Menge Zähl- und Kalkulationslogistik.

Die Überschriften sollten etwas größer und fetter gedruckt werden. Mit der Kugelkopfmaschine war das nicht zu machen. Im Schreibwarengeschäft gab es damals sogenannte 'Lettra-Set-Bögen' in verschiedenen Schriftarten und -größen zu kaufen. Damit rubbelten wir die Überschriften auf die Rein-Lay-outs. Dann ging das kostbare Original-Lay-out, in Seidenpapier gewickelt, in die Druckerei.

Nach einer Woche konnten wir die vorder- und rückseitig bedruckten Blätter abholen. Bei unserer Auflage von 1000 Exemplaren und einer Seitenzahl von 64 waren das also 32 Stöße à 1000 Blätter. Zuhause stellten wir alle tischähnlichen Gegenstände hintereinander und verteilten die Stöße in der korrekten Reihenfolge über die Fläche. Dann fing die Wanderung um die Tische an, indem jeder von uns die einzelnen Blätter zu einem fertigen Heftinnenteil zusammentrug, ordentlich auf Stoß brachte und auf einem Extratisch ablegte. Bei 1000 Exemplaren machte das für jeden von uns ungefähr 333 Tischumrundungen.

Die zusammengetragenen Innenteile wurden akribisch auf Stoß übereinandergelegt. Danach öffneten wir eine Flasche Rotwein, was strenggenommen nicht zum eigentlichen Produktionsprozess dazugehörte.

Der nächste Schritt war die Klebebindung oder das 'Lumbecken'. Mit Lumbeck-Leim wurden die auf Stoß liegenden Rückseiten der Heftinnenteile eingepinselt und mit dem in den Leim gedrückten Gazestoff verstärkt. Nach dem Trocknen kam eine zweite Leimschicht drauf. Dann fuhren wir die Stöße zu jeweils ca. 20 oder 30 Exemplaren zurück in die Druckerei. Dort war inzwischen der Umschlag gedruckt und mit der vorher berechneten Heftdicke am Rücken genutet.

Eine dritte Leimschicht wurde auf die Stöße gepinselt und dann wurde mit einem Messer Heftinnenteil für Innenteil vom Stoß runtergeschnitten und in die Nut des Umschlags mit dem noch feuchten Leim eingepasst, ungefähr 1000-mal.

Beim letzten Schritt half uns eine Teufelsmaschine. Beim Zusammentragen von losen Blättern und dem anschließenden Lumbecken ist es unmöglich, dass jedes Blatt haargenau auf dem anderen liegt. Unsere kleine Druckerei erlaubte uns, dass wir die Hefte selber mit der großen Schneidpresse weiterverarbeiten durften. Die Maschine wurde so eingerichtet, dass wir immer ca. 10 Exemplare auf jeder der drei Seiten beschneiden konnten, sodass das fertige Heft einen ordentlich genuteten Rücken und drei klare Schnittkanten an den übrigen Seiten hatte. Dann war das Heft endlich fertig und wir durften unsere 1000 Exemplare ins Auto verladen und nach Hause bringen.

Die wirklich großen Probleme und unangenehmen Dinge begannen nun. Man nennt das 'Vertrieb', ein irgendwie abstoßendes Wort. Dazu passen ähnliche Wörter wie 'Kommission, Rechnungen, Buchhandelsrabatt, Abowerbung und Postversand'. Das ist alles ganz, ganz schrecklich und eine ganz andere, sehr viel langweiligere Geschichte. …
Dirk Bubel


Dirk wurde 1955 im Saarland geboren, studierte Soziologie und Sozialpsychologie in Saarbrücken, 1976 Begründer des Kleinverlages Bernd Schreiber Verlag, Mitherausgeber der Literaturzeitschrift "Versuche; Saarländische Zeitschrift für Literatur und Graphik", Mitinitiator von Lyrikaktionen auf Plakaten „Lyrischer März, Lyrischer Frühling“; 1978 bis 1981 Redakteur bei einem regionalen Monatsmagazin; freiberufliche Tätigkeit als Pressesprecher und Werbetexter. 1982 bis 1984 Kleinbauer in Griechenland. Mitbegründer von mmm („mangelsmassemedium“, Schriftsteller und Bildende Künstler erstellen eine Publikation, die nicht verkauft werden muss); 1987 Mitbegründer des Saarländischen Literaturbüros zusammen mit Marcella Berger und Anette Keinhorst; von 1989 bis 1997 Redakteur beim Kulturmagazin „Saarbrücker Hefte“. Seit 1989 Ansprechpartner für Kulturinstitutionen aller Art als „Projektberater“ bei der Arbeit und Kultur Saarland GmbH. 1990 bis 1994 Durchführung von kulturellen Veranstaltungen zusammen mit Armin Schmitt und Klaus Schön in der Alten Völklinger Hütte („Steelopolis“ und „Schichtwechsel“), heute Weltkulturerbe.
Seit 2006 Vorsitzender des Saarländischen Künstlerhauses. Mitglied im Saarländischen Schriftstellerverband seit 1979. Dirk ist Herausgeber verschiedener Buchpublikationen, z.B. J. Albers/ U. Blaß/ D. Bubel/ H. Glaser (Hrsg.): „Saarbrücken zu Fuß. 17 Stadtteilrundgänge durch Geschichte und Gegenwart“, VSA-Verlag, Hamburg 1989; D. Bubel/ D. Heinz/ G. Kiefer (Hrsg.) „Saarbrücken gebaut, zerstört, wiedererstanden“, Verlag: Betulius 1996 oder „Werner Reinert: Einmal war die Erde Ohr. Gedichte“ D. Bubel, H. Gätje (Hrsg.), Verlag: Gollenstein, 2004.
Dirk Bubel im Porträt auf SR2

 

 

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